top of page
  • tom28767

Marvin hat keinen Bock mehr

Aktualisiert: 13. Aug. 2021

Die Schicksale von Kindern, die im Lockdown ihrer Zukunft beraubt wurden, sind längst in Statistiken aufgegangen. Um die Folgen ermessen zu können, sollte man Mike zuhören: Er lebt in Landsberg am Lech und hat einen Sohn – der nicht mehr kann. Und er ist damit in der Gemeinde nicht allein.



Es war schon nach 22 Uhr, als ich letzten Mittwoch frühzeitig die Sitzung des Landsberger Stadtrats verließ. Es ging dort um die Modernisierung des örtlichen Freibades und um die Auswahl eines neuen Heimatpflegers. Das Freibad konnte ich noch mitentscheiden, der Heimatpfleger musste ohne meine Stimme auskommen, denn während der Sitzung bekam ich ein SMS, dass mein Rat dringend gefragt sei. Als Mensch und Stadtrat.

Und so traf ich dann spät abends noch Mike* (Name geändert) am Lechwehr, einen guten Bekannten, der offensichtlich so mit den Nerven am Ende war, dass er mich aus einer Sitzung heraus holte. Mike ist Mitte vierzig, geschieden, hat einen Sohn. Der ist vierzehn und wohnt bei seiner Mutter, Mikes Ex-Frau. Mike zahlt den geforderten Unterhalt und konnte bis vor einem Jahr sein Kind regelmäßig und völlig unproblematisch sehen. Seit dem Winter ist das anders.

Marvin* (Name geändert), so erzählte es mir sein Vater, sei nämlich ausgestiegen. Aus Schule, Familie und Freundeskreis. Der Junge hatte schon immer wenig Lust auf Schule, sei eher ein Träumer denn ein Macher ... mathematisch völlig unbegabt. Das Resultat: Mittelschule. Dort hat er sich, mehr recht als schlecht, aber tapfer bis zur 7. Klasse durchgekämpft. Mit mittleren Noten. Dann kamen die Lockdowns. Und mit denen das Homeschooling. Und seitdem ist alles anders.


Marvins Mutter arbeitet „auf Schicht“ in einem Supermarkt. Kann sich also nur sehr unregelmäßig um ihn kümmern. Und sein Vater war ab Oktober drei Monate auf Montage. Im Februar noch einmal zwei. Mike arbeitet als Schreiner im Innenausbau: Hotels, Tagungszentren, große Privathäuser. Marvin war demnach viel allein zu Hause, durfte sich von Staats wegen nicht mit seinen Freunden treffen – sollte anstatt dessen lernen.

Marvin hat wenig gelernt, sondern den Computer eher für allerlei Zeitvertreib genutzt – TikTok, Instagram, YouTube. Und anstatt sich Mathe reinzuziehen, hat er sich bei asiatischen Kung-Fu Filmen und amerikanische Action-Spielen weitergebildet.


Zunächst heimlich, dann ungeniert offen. Seine Mutter, eher auf Harmonie und Verständnis ausgerichtet, hat anfangs versucht, ihr Kind zum Homeschooling anzuhalten, es aber schließlich aufgegeben. Sie war dafür deutlich zu wenig zu Hause. Seit vier Wochen weigert sich Marvin nun beharrlich, regelmäßig in die Schule zu gehen. Mal ist es der Magen, dann sind es Kopfschmerzen, mal ist es „Mobbing“ in der Klasse.

Mike jedoch ist sich sicher: Sein Sohn Marvin hat „keinen Bock“ mehr. Und so hat er sich seinen „Jungen“ immer wieder vorgeknöpft. Ihm ins Gewissen geredet. Ihm klargemacht, dass er gerade mehr verspielt als ab und zu sein Taschengeld im Internet – nämlich seine berufliche Zukunft.


Aber Marvin hört ihm nicht mehr zu. Auch Marvins Mutter hat wenig Lust auf Diskussionen mit ihrem Ex, denn Marvin ist für sie ein „Corona-Opfer“. Und als solches mit Milde und Verständnis zu behandeln. Resultat dieser Meinungsverschiedenheit ist eine gravierende Störung. Mike, der auf seinem Standpunkt beharrt, ist jetzt, wie sagt das „Familien-Arschloch“ und bleibt daher ohne Umgang mit Sohn und Ex-Frau. Beide haben nach zermürbenden Kontroversen den Kontakt zu ihm abgebrochen.

Folgerichtig bittet mich Mike an diesem Abend, dass ich, „sein“ Stadtrat, doch dafür sorgen möge, dass die Schule und das Jugendamt sich um solche „Ausfälle“ intensiver kümmern, also dafür sorgen, dass alle Kinder, auch sein Marvin, wieder regelmäßig in die Schule gehen – und dort, wie vor der Pandemie, „gefordert und gefördert“ werden. Von alleine würde Marvin den Hintern jedenfalls nicht mehr hochbekommen.

Wir standen gut eine Stunde am Lechwehr, Mike und ich. Es tat ihm gut sich auszusprechen. Noch besser bekam es ihm wahrscheinlich, dass ich vor ihm seine Probleme nicht mit denen anderer Eltern verglichen habe. Fakt ist nämlich, dass Mike mit seinem Sohn einen zurzeit noch milden Verlauf hat. Das große Elend herrscht bei uns, fast unbeobachtet, in den Familien mit Migrationshintergrund und/oder den Kindern die über Monate beengt mit Vater- Mutter- und manchmal sogar Großeltern leben mussten.


„Das können Sie sich vorstellen wie Mehltau“, erklärte mir vor zwei Monaten ein Lehrer unserer Mittelschule. „Auf manchen Häusern liegt irgendetwas, was die Kinder träge, gleichgültig und letztendlich trotzig macht. Da fehlt seit je die Perspektive, und die wenigen, die sich von dort trotzdem aufmachen wollten, sind im Lockdown eingesunken wie ein Lamm im Treibsand.“


Aber nicht nur in den sozialen Randgruppen gibt es Probleme. Vor zwei Wochen wurde am frühen Morgen am benachbarten Ammersee eine völlig zugekiffte Sechzehnjährige von der Polizei aufgegriffen. Sie stammt aus einer der angesehensten Familien dieser Gegend. Ihr Vater ist Arbeitgeber für über 100 Menschen, Villa am See, Rotarier.

Seine Tochter galt vor der Pandemie nicht nur als engagierte Schülerin, sondern auch als engagierte Klima-Aktivistin. Ich kenne ihren Onkel, der mich nach dem Vorfall anrief, und mich bat dafür zu sorgen, dass „nichts von diesem Vorfall in der Zeitung steht“. Seine Nichte, so versprach er mir, werde in eine Institution „verbracht“, wo sie gegen ihren Drogenkonsum behandelt werden kann. In die Schweiz, weil die Plätze für „solche Jugendliche“ in Deutschland gerade mehrfach vergeben seien.


Ich hielt das, nach nur einem derartigen Vorfall, für übertrieben und riet dem Mann, es etwas lockerer anzugehen. Als ich jedoch hörte, dass das Mädchen seit über einem halben Jahr mit Drogen hantiert, sagte ich nichts mehr.

Depressionen, Essstörungen, Drogen und Schulversagen bei Kindern und Jugendlichen: Immer häufiger werde ich damit konfrontiert. Meist unter dem Siegel der Verschwiegenheit, denn nicht wenige Angehörige schämen sich für ihre Kinder. Die offensichtlich nicht stabil genug sind, um, wie es aus der Politik schon hieß, den „Po einmal zusammen zu kneifen“. Andere Generationen, so hörte ich es wortwörtlich von einem bayerischen Landespolitiker in München, hätten ja schließlich als Kinder sogar einen Weltkrieg weggesteckt. Der Mann hat, natürlich, keine Kinder. Landsberg ist eine Kleinstadt, die im Kern sehr intakt ist.


Wir versuchen als Lokalpolitiker vieles, damit das auch so bleibt. Allerdings haben uns Pandemie und Lockdowns deutlich unsere Grenzen aufgezeigt. Ich dachte noch vor einem halben Jahr, dass die größten Probleme nach der Pandemie die vielen Geschäftsschließungen und eine verödende Innenstadt sein werden. Ich habe mich kolossal geirrt: Das größte Problem sind die vielen irritierten und verletzten Seelen von Kindern und Jugendlichen, um die wir uns wohl nicht genügend gekümmert haben.

Wenn ich mir nach dieser schmerzvollen Erkenntnis ausmale, was gerade bei den durch die Lockdowns geschädigten Kindern und Jugendlichen in Großstädten wie Berlin, Frankfurt oder Köln geschieht, wird mir allerdings ganz anders.


Veröffentlicht in der WELT am 11.07.2021

https://www.welt.de/kultur/plus232416433/Lernstreik-Drogen-Depressionen-Tom-Bohn-ueber-eine-Schuelergeneration.html?icid=search.product.onsitesearch




25 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page