- tom28767
Gegen den Muff der Merkel-Jahre
Aktualisiert: 13. Aug. 2021
Luisa Neubauer, Timon Dzienus, Benedikt Brechtken stehen für ganz unterschiedliche Politik. Doch eins haben sie gemeinsam: Sie kämpfen gegen Muff und Stillstand. Und noch etwas eint diese jungen Rebellen.

Es gibt noch gute Nachrichten im politischen Deutschland. Eine davon betrifft die Jugend, denn da rührt sich etwas. Nach gut zwanzig Jahren jugendlichen Desinteresses an Politik und Staatsentwicklung hat eine neue Generation die Bühne betreten. Eine Generation, die sich grundlegend von derjenigen unterscheidet, die ihr voranging.
Die größtenteils unpolitisch war und sich schwerpunktmäßig mit der Farbe von Nagellack, dem neuesten Enthaarungsstudio, einem exotischen Drink oder einem möglichst lässigen Arbeitsvertrag beschäftigte. Die sich hat einlullen lassen von einer omnipräsenten Kanzlerin mit familiärer Attitüde, die in so vielem an die angenehme Situation zu Hause erinnerte: „Die Mutti macht das schon.“
Getragen wurde diese Kanzlerin lange von einem breiten gesellschaftlichen Konsens, der allerdings bei vielen jungen Menschen zu Gleichgültigkeit bei politischen Zusammenhängen und Kontroversen führte. „Ach ja, die Politik ... touched mich jetzt nicht wirklich.“ Ein oft gesagter und dann auch gelebter Satz der heute knapp Dreißigjährigen.
Es war nicht so, dass diese pragmatische Haltung bei den amtierenden Politikern auf große Verzweiflung gestoßen wäre. Im Gegenteil: Man hatte eine Jugend, die größtenteils, wenn sie nicht irgendwo im Ausland exklusiv urlaubte, einfach mitmachte. Die das alles geschehen ließ, was heute so viel Ungemach hervorruft. Vor allem bei denen, die den Desinteressierten als neue junge Generation nachfolgt. Denn noch nie wurden in der Bundesrepublik in einer politischen Ära so wenige Fortschritte in existenziell wichtigen Bereichen gemacht:
Die Umweltpolitik verfehlt in schöner Regelmäßigkeit fast jedes von der Regierung gesetzte Ziel, die für den Fortbestand einer konkurrenzfähigen Wirtschaft so wichtige Digitalisierung des Landes ist immer noch eine Baustelle, und das Bildungssystem Deutschlands ist so zerfasert wie die Nackenhaare der Kanzlerin nach einer Ministerpräsidentenkonferenz.
Nun tritt diese Kanzlerin ab: Die „Mutti“ geht. Wer ihr im Kanzleramt nachfolgt, ist noch völlig unklar. Was sich allerdings jetzt schon abzeichnet, ist, dass es vorbei ist mit der politischen Harmonie zwischen Jung und Alt. Es kommt eine Generation, die sich nicht nur manchmal politisch betätigen, sondern aktiv Politik gestalten will. Und sie kommt vehement.
Letzteres dürfte jedem klar geworden sein, der im Mai die „Live“- Kontroverse zwischen Luisa Neubauer und Armin Laschet bei Anne Will sah. Neubauer unterstellte dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Georg Maaßen, dass dieser rassistische und antisemitische Inhalte verbreite. Trotz multimedialem Aufschrei blieb sie bei dieser Darstellung.
Man kann zu dieser Aktion stehen, wie man will, das Rückgrat dieser gerade einmal 26 Jahre jungen Frau verdient Achtung. Sie hat das öffentlich gesagt, was sie denkt, und ist trotz Shitstorm nicht eingeknickt. Ein Verhalten, das man in der etablierten politischen Landschaft eher selten findet. Wenn überhaupt.
Ein weiterer, wilder Feger aus dem links-ökologischen Lager ist der 24-jährige Timon Dzienus, der sich gerade unter anderem bei Twitter bevorzugt an allem Rechtsradikalen und an CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet abarbeitet. Manchmal tut er in einem Tweet beides gleichzeitig, was zu großer Verärgerung im Unionslager geführt haben dürfte. Dzienus, Mitglied des Bundesvorstands der Grünen Jugend, fiel Ende des Jahres einer breiteren Öffentlichkeit auf, als er mit einer spontanen Spendenaktion der Zeitung WELT sehr gewitzt den Schneid abkaufte.
Ein Jahr jünger und mit Dzienus in inniger Feindschaft verbunden, ist der ehemalige Vorsitzende der jungen Liberalen in Recklinghausen, Ben Brechtken. Der von ihm bei jeder Gelegenheit an den Mann und an die Frau gebrachte Spruch: „Steuern sind Raub“ bringt nicht nur einen gefühlt großen Teil der linken Szene in Wallung, sondern auch die Parteioberen der FDP. Alle Disziplinierungsversuche fruchteten jedoch bisher nichts: Brechtken ist in seinem oft schon libertären Punk nicht zu bremsen. Wie fragte er neulich seine fast 20.000 Follower bei Twitter: „Vor was habt Ihr mehr Angst: Vor Corona oder vor dem Staat?“ Die Antwort war eindeutig. Sie dürfte Brechtken sehr befriedigt haben.
Die Liste ließe sich beliebig lange fortführen. Egal, welches Geschlecht, welche politische Richtung, welche Partei: Die Jungen mucken auf. Vor allem politisch. Und das ist es, was Hoffnung machen sollte. Aber natürlich auch Kopfzerbrechen, darüber müssen sich Politik und Gesellschaft klar werden, denn vielleicht wird es sogar ähnlich heftig wie damals in den Sechzigern. Naturgemäß sind diese Youngster alles andere als perfekt. Sie sind oft selbstgerecht, politisch verblendet, ungeduldig und häufig ohne Maß und Respekt. Im besten Sinn also rebellisch.
Wenn es Deutschland jedoch gelingt, dieses politisch vielseitige Rebellentum als konstruktiven Ausgleich für den jahrzehntelangen Muff der Merkel-Ära anzunehmen, dann könnte etwas sehr Konstruktives daraus entstehen. Dafür muss man ihnen allerdings auch so einiges durchgehen lassen, den Jungen. Was den von der Politik und Öffentlich-Rechtlichen auf Konsens getrimmten Bundesbürgern nicht leichtfallen dürfte.
Helfen könnte der Rückblick auf eigene frühe Taten. Und das, was man heute darüber denkt. Nicht wenige der jetzigen „Boomer“ haben sich früher mit Staat und Andersdenkenden lautstark gestritten oder sogar geprügelt. Greenpeace, Wackersdorf, Startbahn West oder Attac ... um nur ein paar Wirkungsorte zu nennen. Und viele Ältere sind heute auf der genau gegenseitigen politischen Richtung unterwegs, bereuen sogar manche Aussagen und Aktionen. Weil sie dazugelernt – und/oder durch eigene Familien zu anderen Blickwinkeln gelangt sind.
Man sollte sie nicht hofieren, die neuen Rebellen. Und man sollte ihnen entgegentreten, wenn sie zu sehr über die Stränge schlagen. Aber man sollte sich auch freuen, dass es sie gibt. Sie könnten helfen, einen dringend nötigen politischen Frühling nach Deutschland zu bringen.
Veröffentlicht in der WELT am 27.07.2021
https://www.welt.de/kultur/plus232739199/Die-jungen-Rebellen-sind-da-Gegen-den-Muff-der-Merkel-Jahre.html?icid=search.product.onsitesearch